Dieser Jodok macht es uns eigentlich jedes Jahr schwer. So kurz vor Weihnachten ist jeder Pfarrer mit seinen Gedanken schon bei seiner Weihnachtspredigt. Der Chor probt seine Weihnachtsgesänge. Und dann kommt für jede Jodokspfarrei der 13. Dezember, der Gedenktag des Pfarrpatrons. Kaum zu umgehen. Es ist halt sein Sterbetag. Da kann man nichts ändern. Unvermeidlich trifft man dann jedes Jahr um den 3. Adventssonntag herum auf Johannes den Täufer. Und der muss dann natürlich dem Pfarrpatron weichen. Aber recht besehen: Wenn man beide so nebeneinander stehen hat, dann passen sie gar nicht so schlecht zusammen. Beide haben das gleiche Profil. Wir haben sogar etliche Darstellungen, auf denen beide friedlich nebeneinander stehen: z. B. in der Schlosskirche Winnenden bei Stuttgart. Oder auf einem kleinen Halbrelief im Bayerischen Nationalmuseum in München. Da kommen beide zum Jesuskind, das Maria auf dem Schoß hat. Johannes bringt ein kleines Schäfchen mit. Und Jodok hält ihm seine Krone hin, die das Jesuskind wie es Babies so machen - gar nicht mehr aus den Fingern lässt.
Wenn dieses Zusammentreffen zunächst auch wie ein purer Zufall aussieht, so hat es uns ungewollt mit der Nase auf eine Spur gestoßen, die uns den Schritt Jodoks hinein in seine Klause viel besser verstehen hilft. Wir müssen seit dieser Entdeckung davon ausgehen, dass genau dieser Johannes d. T. und all die Wüstenväter, die es ihm nachgemacht haben, Jodok nicht nur nicht fremd, sondern sogar als Lebensmodell gespeichert waren.
Und deshalb wollen wir dieser neuen Spur jetzt nachgehen:
I. Das Abenteuer der Wüstenmönche
Johannes d. T. war ja nicht der Erste und schon gar nicht der Letzte, der sich als Aussteiger in die Wüste zurückzog. Für das ganze Volk Israel war ja der 40-jährige Auszug aus Ägypten durch die Wüste eine besondere Zeit der Gotteserfahrung und Gottesbegegnung. Und nun bekommt die Wüste für ein paar Jahrhunderte wieder eine geradezu magische Anziehungskraft, die wir uns kaum mehr vorstellen können: Sie ist der Ort, wo man Gott begegnen kann.
Man hört in der Kirchengeschichte schon einmal von Wüstenvätern, also von Männern, die wie Johannes d. T. sich in Höhlen, Gräbern oder Felsspalten der Wüste verkrochen, sich einen notdürftigen Unterstand bauten und vegetarisch vom Notdürftigsten lebten; von Heuschrecken und wildem Honig. Das wurde eine riesige Bewegung, die sich von Nordägypten über Palästina, dem Zwei-Strom-Land bis herüber in die Türkei erstreckte. Sie brachen auf, weil sie in der Wüste Gott begegnen wollten...
Es erstaunt, wie viele bereit waren, ihr Leben dafür zu investieren. Man kann ihre Zahl kaum schätzen. Das waren nicht nur einige zig Männer. Es war wie eine Lawine, die immer größer wurde. Eine ganze Reihe kennen wir mit Namen. Der erste, der die Welle auslöste war z. B. Antonius (Grünewald/ Colmar hat nicht nur Jo. gemalt mit dem großen Zeigefinger, sondern auch diesen ersten Eremiten). Andere machten es ihm nach. Dann sammelten sich um diese erste Welle der Einsiedler weitere, manchmal hunderte, die von ihnen angeleitet und betreut werden wollten. Zu ihnen zogen Neugierige hinaus wie schon zu Jo.d.T. - und wollten nur mal sehen, wie es da in der Wüste zugeht. Ihr Leben war wirklich wie bei Johannes d. T. nicht nur armselig. Es war brutal hart. Überstanden haben es oft nur die, die robust genug waren, körperlich und psychisch. Eine ganze Reihe ist nicht nur nicht heilig sondern verrückt geworden, manche sind verlottert oder auch verhungert und verdurstet. Die Wüste hat keine Gefühle. (Die Wüste lebt: der Filmtitel hätte auch zu dieser Szene gepasst).
Nehmen wir noch einen zweiten Namen: Der Mönch Pachomius, ein Fellache (bäuerliche Bevölkerung in Ägypten), der wusste, wie man in und neben der Wüste lebt, war als Soldat gescheitert und später Einsiedler geworden. Er konnte gut organisieren. Er hatte die Idee, wie man in den riesigen Andrang der Eremiten etwas Ordnung hineinbringen könnte. Er schickte die Männer nicht in die Einsamkeit der Wüste hinaus. Er holte - umgekehrt - die Stille der Wüste ins Kloster herein. So hat er am Nil bei Theben nacheinander und nahe beieinander neun(!) Klöster errichtet mit zusammen etwa 12-14.000 Mönchen. Unvorstellbar allein die Logistik. Er schrieb für seine Einsiedler eine recht strenge Regel mit viel Stille und Schweigen, und setzte sie auch durch. Das waren eigentlich die ersten Klöster: riesige religiöse Kasernen. Wer nicht folgte, wurde bestraft. Wenn das nicht half, flog er raus. Denn vor den Klöstern warteten noch hunderte, die hinein wollten.
Schon spannend. Ich möchte es damit bewenden lassen. Wir brauchen aber diesen Hintergrund gerade im Blick auf unseren Pfarrpatron Jodok.
Es dauerte natürlich seine Zeit, bis dieses Modell der Wüstenmönche 4.000 km entfernt in Irland und Schottland ankommt. Und es sieht da nun völlig anders aus: Hier gab es keine flirrende Sonnenglut und keine Wassernot. Bestes Wasser mehr als genug. Hier gibt es auch nicht den großen Ansturm. Waren es im Orient die Versuchungen des Teufels, gegen die die Mönche in der Einsamkeit und der flirrenden Hitze ständig ankämpfen mussten, so hörten Menschen in Irland und Schottland im Rauschen und Brausen der Wälder eher, wie die Wilde Jagd des Wotan übers Land stürmte. Für die christlichen Einsiedler aber war dieses laute Stürmen oder leise Rauschen der Wälder jene geheimnisvolle Aura, in der sie Gottes Nähe zu spüren glaubten.
Aber es gab nun einen wesentlichen Unterschied: Diese Mönche blieben nicht lebenslang in ihrer Klause. Sie zogen oft los als Wandermönche und predigten den Menschen, wie es Jesus und Johannes vorgemacht hatte. Damit treffen wir auf jene Missionare, die aus Irland und Schottland im 6., im 7. oder 8. Jahrhundert aufs Festland zu uns herüber kamen und unsere Vorfahren bekehrten: Bonifatius, Korbinian, Kilian, Gallus, Patrick, Virgil, usw. (Da passt die späte Wallfahrt Jodoks nach Rom auch nahtlos dazu).
II. Die Vorlage für Jodokus
Und jetzt sind wir - um ca. 600 - wieder bei Jodokus. Er und seine keltischen Vorfahren, längst von Mönchen christianisiert, kamen ja von England rüber. Und Jodok war genau mit seinen Brüdern durch diese Schule bei den Mönchen gegangen (Privatschule!). Ihm war die Lebensform der Mönche und Missionare nicht fremd. Es war für ihn deshalb wohl auch kein so unerhörter Bruch, als er sich von seiner Familie löste, um sich spontan einer Pilgergruppe anzuschließen. Bei einer Familie mit über 20 Kindern (nach dem Tod der ersten Frau hatte der Vater ja nochmals geheiratet) waren solche religiöse Weichenstellungen auch nichts Ungewöhnliches. (Kamen früher nicht auch unsere Priester und Ordensleute besonders aus kinderreichen Familien?)
Vielleicht verwundert es noch weniger, wenn man den geschichtlichen Hintergrund mit bedenkt: Der Vater Judhael war König der Bretagne. Er hatte erstmals die keltischen Stämme und Klans dort alle geeint und als ihr erster König geführt. Jodok hätte also ein herzogliches Leben erwartet. Es ist aber, geschichtlich gesehen, eine unruhige Zeit. Die freiheitsliebenden Kelten legen sich ständig an mit der fränkischen Zentralgewalt, die alles unter Kontrolle haben wollte bis hinüber zum Ärmelkanal (Kg Dagobert!). Auseinandersetzungen sind an der Tagesordnung. Unser Europa beginnt ja erst, sich langsam zu formen.
Als der Vater stirbt, ist zunächst der ältere Bruder Judikael dran. Der hat aber bald genug von den kriegerischen Fehden und möchte lieber wieder ins Kloster seiner Schulzeit zurück (gilt in F ebenfalls als Heiliger!). Er trägt Jodok nun die Regentschaft an. Aber der weiß, was ihm blühen würde. Nach acht Tagen Bedenkzeit steht sein Entschluss. Er schafft Fakten. Er entzieht sich den Erwartungen und bricht seine Zelte daheim ab. Sein Weggehen mit einer Gruppe von Pilgern, die angeblich auf dem Weg nach Rom sind, bleibt nur eine kurze Episode. Er wird sich aber später wieder daran erinnern. Als ihre Pilgergruppe in das Gebiet von Herzog Haymon kommt, wird dieser auf den jungen und gebildeten Mann aufmerksam und es gelingt ihm, ihn an seinem Hofe zu halten. Dieser Kontakt zu Haymon wird fortan sein weiteres Leben begleiten:
Haymon ermöglicht ihm zunächst, Priester zu werden. Er wird für sechs Jahre sein Hofkaplan und wird seinen Sohn taufen. Aber er spürt: Das war es noch nicht, was er suchte. Da hätte er gleich daheim bleiben können. Religiöse Überlegungen waren ihm, der aus einer Familie kommt, in der der Vater alle Söhne auf die Klosterschule geschickt hat, nicht nur nicht fremd. Jetzt (!) mögen jene Bilder und Berichte von Johannes d. T. bis zu den iro-schottischen Mönchen wieder lebendig geworden sein. Ein Lebensmodell, das viele schon vor ihm praktiziert hatten. Wie käme sonst ein gesunder Mensch auf den Gedanken, irgendwo als Einsiedler leben zu wollen. Das richtet sich doch gegen alle menschlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse! Es sei denn, man sieht dort eine besondere Chance.
Jodokus sucht seinen Weg und Herzog Haymon hilft ihm dabei. Haymon baut ihm in den nächsten Jahrzehnten an drei verschiedenen Stellen jeweils eine Klause. Und dass sich an seiner letzten Klause weitere Eremiten um ihn scharen, die mit ihm mitleben wollen, solche Erfahrungen kennen wir bereits aus dem Orient.
Eines zeigen die Lebensbeschreibungen immer deutlicher: Aus dem Mann, der selber Gott sucht, wird einer, bei dem sich andere bei dieser Suche mit anschließen können; der ihnen Rat und Führung gibt. Er wird einer, zu dem die Menschen mit ihren Anliegen kommen, zu Lebzeiten und später noch viel mehr.
III. Und was hat es gebracht?
Eine wichtige Frage aber haben wir noch nicht gestellt und deshalb auch noch nicht beantwortet: Was sucht ein Einsiedler in der Einsamkeit, ob Jodok in der Picardie oder die vielen Tausenden des Orients? Was möchten sie finden, wenn sie alle Brücken zurück ins normale Leben abbrechen? Im Grunde geht es nicht nur um die Antwort für Jodok, sondern für alle, die es ernst meinen, wenn sie sich auf Gottes Ruf einlassen.
Wer alles um sich herum abstreift, was ihn belasten, behindern und blockieren könnte, begegnet zunächst vielleicht nicht Gott, sondern sich selber mit all seinen Wünschen, Sehnsüchten, Trieben und Träumen. Und diese Begegnung mit sich selber scheint gar nicht so einfach zu sein. Nicht umsonst berichten die Wüstenväter oft von einem Kampf, den sie immer wieder in ihrem Innern auszutragen haben. Entscheidend ist das positive Grunderlebnis: Es besteht für sie immer wieder darin, dass sie sich, wenn sie die Schöpfung um sie herum betrachten oder in den funkelnden Nachhimmel hinauf schauen, sich auf Tuchfühlung wissen zu einer anderen und viel größeren Wirklichkeit, die sie nur staunend erahnen können, und die wir unbeholfen mit Worthülsen einzufangen versuchen wie: Gott, Himmel, Ewigkeit, Jenseits. Sich so winzig fühlen angesichts der überwältigenden Schöpfung Gottes, das lässt sie still werden und staunend erschauern.
Hat Jodokus gefunden, was er gesucht hat?
Es ist uns kein Wort von ihm überliefert. Aber sein gelebtes Leben sagt eindeutig: Ja! Seine Mitbrüder spüren: Wer so gelebt hat, der muss ein Heiliger sein. Als er stirbt, wollen sie ihn gar nicht hergeben. Es ist fast rührend naiv, dass sie ihn deswegen gar nicht beerdigen wollten. Sie lassen ihn einfach in der Kirche aufgebahrt. Seine beiden Neffen schneiden ihm weiter die Haare, den Bart, die Nägel, die natürlich noch einige Zeit weiterwachsen. Aber irgendwann war es dann doch wohl keine so gute Idee mehr und sie müssen ihn beisetzen.
Wir überspringen heute: Dass er ein paar Monate vor seinem Tod noch zur Pilgerfahrt nach Rom aufgebrochen war. Das war ja der Grund dafür, dass er im Mittelalter noch eine große Rolle als Patron der Pilger bekommen sollte. -
Zum Schluss bleibt natürlich noch die letzte Frage, auf die wir nicht verzichten können:
Was hat das alles mit uns zu tun, hier und heute? Nur noch eine kurze Antwort:
Der Blick auf Jodokus und die anderen Eremiten zeigt, wie radikal Menschen sich auf die Suche nach Gott gemacht haben. Das Thema dieser Menschen bleibt letztlich auch unser aller Thema: Wo und wie kann ich Gott finden? Wir brauchen dazu keinen Jodok kopieren. Es gibt viele Wege, auf Gott zuzugehen. Wir wollen uns bewusst machen, dass wir gerade dabei sind wie Jodok damals Gott nahe zu kommen, wenn wir hier Gottesdienst feiern. Und Weihnachten wird uns wieder bewusst machen, dass es nicht allein um unser Bemühen geht, sondern dass Gott selber ja schon lange auf uns zugegangen ist.